Nackt unter Hippies – Mein Leben in der Höhle

Meine Freundin Lovis und Ich haben Semesterferien und ganze 2 Wochen Zeit. Wohin wollen wir? Das Geld allein entscheidet und die mehrfach verklagte, kontrovers diskutierte und oft mit Inbrunst verfluchte Ausbeuter-Airline Ryanair ermöglicht uns einen umständlichen Flug zu den Kanarischen Inseln. Dieses Afrikanische Stückchen Spanien besteht aus sieben Inseln. Eine davon kennen wir schon: La Gomera. Hier wollen wir wieder hin, genauer: Zum Strand Chinguarime, da wir dort vor einigen Jahren Höhlen entdeckten, die leer standen. Verlassen von Gestalten, die dort zu kochen, zu wandmalen und zu leben pflegten. Gemütlich war es dort, sonnig und friedlich. Damals waren wir im Spätsommer da. Heute ist Frühling.

Die Fähre von Teneriffa spuckt uns in die abendliche Dunkelheit La Gomeras. Es wäre praktisch gewesen, Freunde auf der Fähre gefunden zu haben, dann müssten wir nicht allein den Weg suchen. In den Süden. Wo fuhr der Bus nochmal? Wann fährt der letzte? Diesmal haben wir nicht einmal eine Karte dabei. Doch da! Ein Herr mit Dreadlocks, Leinenhemd, bepackt mit schmantigem Rucksack und Gitarre überholt uns emsig. Er heißt Daniel, ist 29 Jahre alt und will eigentlich auf das Rainbowfestival.

Zum Glück dauern die Rainbow-Feierlichkeiten einen ganzen Monat an: Daniel hat Zeit und Lust, uns nach Chinguarime zu begleiten. Er findet den Weg im Schlaf, hat er doch vor 2 Jahren für 6 Monate hier überwintert. Nach einer 45 Minütigen Busfahrt treten wir den Fußmarsch an.

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Es ist eine Wanderung durch Gras, Geröll, über provisorische Treppen bis hin zu einem steilen Hang. Diesen zu überwinden bedeutet gleichsam, die Feuertaufe in die Welt der Steinzeit zu meistern. Vor 3 Jahren haben Lovis und ich uns noch für Schwimmen entschieden, da uns ein deutsches „Vorsicht Lebensgefahr!“- Schild Angst einjagte. Heute ist es dunkel. Kein Schild, dafür ein Daniel, der uns ohne zu zögern diesen Weg weist. Auf der Höhe angekommen haben wir freien Blick über die Bucht. Der Wind bringt Gitarrenklänge und Flötenspiel, viele kleine Gruppen sitzen um viele weit verteilte Lagerfeuer. Wir steigen mühselig ab und erreichen die ersten kleinen Höhlen in denen Menschen lungern, meditieren, lesen, traumdeuten, Mantren summen oder malen. Einige davon kennt Daniel und grüßt sie. Wir passieren kleine „Eigenheime“, die wir nur im unbewohnten Zustand kannten. Für uns ist keine Höhle mehr frei. Man verweist uns auf die große „Main-Cave“, die „Küche“, hier dürfe ausnahmsweise geschlafen werden. Wir setzen uns noch mit an eines der Lagerfeuer. Patric aus Frankreich hat heut seinen ersten Fisch gefangen. Wir dürfen alle kosten. Der Nächste Tag ist der Beginn einer 4 Tage anklingende Ode ans alternative Leben.

Wir lernen Wolfgang kennen. Er kann es kaum erwarten, dass wir aufwachen, damit er fragen kann: „Was habt ihr geträumt?“. Er hat sich autodidaktisch der Traumdeutung verschrieben, ist Freud-anhänger und scheut sich nicht davor, in anderer Leute Seele zu blicken um dort den faulen Kern zu erspähen und zu therapieren. Er ist einer der wenigen bekleideten Menschen.

Wir lernen Roland kennen. Er ist unbekleidet, ebenfalls aus der Sektion Traumanalyse. Ein schätzungsweise 28 Jähriges Alphatierchen mit Gorilla-Statur. Lebt seit 4 Monaten hier. Sein braun gebrannter, muskelbepackter Körper läuft beständig das Revier ab. Wo er ist, verbleibt man in Ehrfurcht. Er ist Flötenspieler und verdient sein Geld mit dem Verkauf selbstgebauter Flöten. Eigentlich lernen wir ihn nicht „kennen“. Wir hören nur, wie man über ihn redet, ertragen beschämt seinen Blick, der eindeutig Verachtung verheißt.

Daniel und Roland liefern sich ein heftiges Flöten-Duell quer durch Chinguarime
Daniel und Roland liefern sich ein heftiges Flöten-Duell

Daniel wurde bereits Opfer von Rolands vernichtender Seelenanalyse. Zitat Roland „Daniel, dass du meinen Namen gestern nicht mehr wusstest, zeigt dein ignorantes Wesen. Du hast ein wahnsinnig schlechtes Charakterprofil“. Das Wort „Charakterprofil“ ist übrigens eine Vokabel der Freud`schen Traumanalyse. Daniel spürt deutlich die schlechte Energie, die von Roland ausgeht und baut erst einmal einen Anti-Dämonen-Kreis aus Steinen und singt einen Dämonen-Vertreibe-Song.

Lovis und mir mangelt es zwar an Wissen über Dämonenkreise, an Bräune und Nacktheit. Dennoch entledigen wir uns mutig unserer Oberteile und barfuß laufen tut immer weniger weh.

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Wir fühlen uns wie zwei Fremdlinge, die sich an die Begebenheiten einer längst vergessenen Spezies anpassen möchten. Wir sind die Luschen mit den Flip-Flops, die Stadtkinder mit ihren Edeka-Haferflocken, die Brille viel zu poliert, um wirklich wild zu sein. Verräterisch sonnenverbrannt sind meine Waden, wir haben keine naturgeprüften, sonnengegärbten, ledrigen Gesichter. Unsere völlig unspirituellen Smartphones und Fotoapperate bleiben tief im Rucksack vergraben. Das ist der Grund für die wenigen Fotos, die ich schieße. Wir spüren am eigenen Leib, wie unterschiedlich die Toleranzgrenzen bei den Höhlenbewohnern sind. Einige sind einfach nur herzlich und heißen uns willkommen, aber für einzelne sind wir viel mehr unspirituelle, weiße Babylonier, als jene selbstsuchenden, freiliebenden, kindermachenden Dreadlocks, die hier sonst so her pilgern. Allein dass wir nur einige Tage bleiben wollen ist lächerlich. Unter vier Monaten redet kein Roland-Häuptling dieser Welt mit dir!

weiterer Blogbeitrag zum Thema: http://www.siliconweb.ie/lagomera2.php?include=lagomera/14-Jan-2007.php

Einst saßen wir mit Traumdeuter-Wolfgang in der „Küche“. Es war eines der vielen Stundenlangen Gespräche über die artgerechte Haltung des Menschen (Familie ist NICHT artgerecht, Kinder sollten spätestens mit 3 Jahren in einem Rudel mit lauter Gleichaltrigen leben und sich gegenseitig erziehen, ohne die Schädigungen der Erwachsenen, nur so könne es zu einer intuitiv gesteuerten, artgerechten Haltung kommen). Ab und zu klinkt sich der Jongleur (59 Jahre, Schweizer, dünn, nackt, braungebrannt, Kernkompetenz: 5 Keulen schwingen) mit ein.

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Der rasende Gorilla-Roland betritt den „Saal“. Wolfgang an Roland: „Und? Wann fährst du eigentlich ab?“ Roland: „Hmm, morgen geh ich aufs Rainbow, denke ich mal. Hab irgendwie nichts mehr zu tun hier. Ich kenne inzwischen alle, die hier sind. Außer die beiden, “ Er deutet auf Lovis und mich, „aber die sind mir zu weiß, da will ich keine Energie ins kennen lernen stecken.“

Lovis empört: „Pff“

Roland, nun erstmalig mit einem von uns sprechend: „Du fühlst dich doch jetzt nicht angegriffen, oder?“

Lovis: „Ein bisschen ausgrenzend ists schon!“

Im Anschluss wird sie als Mimose betitelt und muss sich verbal weiter behaupten, während ich schon über die Frage nachdenke, ob diese beiden Welten sich jemals miteinander arrangieren. Auf der einen Seite stehen wir (und ihr!): Babylon, Ratio-gesteuert, Intuition unterdrückend, kommerziell und systemkonform, bekleidet, voller Scham, westliche Bildung und vom „Über-Ich“ beschnitten. Hier in Chunguarime lebt man nicht nur mit der äußeren Natur, sondern auch näher an der inneren: Trauer- und Wutbewältigung besteht aus Brüllen und Steinewerfen (Electra, Mutter von 2 goldigen kleinen Kindern ist mit Roland eine sexuelle Beziehung eingegangen. Sie ist wütend, weil er das Interesse an ihr verloren hat und jetzt abreist). Es gibt wenig Privatsphäre (weshalb ich die Geschichte mit Electra weiß), allen gehört alles. Die Menstruation wird gern symbolisch in die Erde geblutet, der Stuhlgang erfolgt am Strand auf einen flachen, hand-großen Stein, der anschließend behutsam ins Meer katapultiert wird. Ziel ist es, sein inneres Kind zu finden, sein Ur-Selbst, den eigenen Ursprung, sich, in der aller reinsten Form. Ohne Schädigungen von Gesellschaft, Mitmenschen und Eltern. Mehr Dankbarkeit, Einklang, weniger Gift. Es klingt paradiesisch. Doch so erstrebenswert der Gedanke ist, so lehrreich diese Tage waren, wir verlassen diesen Ort mit gemischten Gefühlen. Und finden einen noch schöneren.

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