Klettern und frieren in Antalya

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Die Wortgruppe „Kletterurlaub in der Türkei“ hatte für mich ursprünglich etwas sommerliches. Da schwang immer ein wenig sonnendurchtränkter Olivenduft, Meeresrauschen und Sonnenbrand mit. In meiner Vorstellung war es mutig und gewagt, die Sonnenchreme zuhause zu lassen. Nein, in meinem Handgepäck ist nur Platz für Chalk, Klettergurt und Karabiner. Daunenjacke? Mütze? Ach quatscht, ich fliege doch zum klettern hin, nicht zum frieren! Nun. Wer nicht denken will, muss fühlen. Vor allem Nachts. Allein. Im Zelt. Mit Eisschicht drauf.

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Freundin Luise und ihr Reisegefährt und Freund Christian holen mich mit ihrem Buli vom Flughafen ab. Sie selbst befinden sich am Ende eines monatelangen Klettertrips durch den Süden Europas über Bulgarien bis in die Türkei. Der Buli hat ganze Arbeit geleistet und den beiden ein entzückendes, kleines, perfektes Zuhause geboten. Für eine Woche darf ich Gast sein.

Wir fahren ins Sportklettergebiet Geyikbairi, unweit von Antalya. Die erste Nacht überstand ich frostfrei und am Folgetag schien die Sonne. Ganze zwei Stunden. Für diese Zwei Stunden war ich perfekt vorbereitet und eingekleidet, der restliche Urlaub sollte mir eine Lehre sein: Auch in der Türkei darf der Monat Januar mit etwas „daunigem“ wie „Daunenschlafsack“ oder „Daunenjacke“ assoziiert werden. Auf dem Zeltplatz zu Geyikbairi liefen eigentlich keine Menschen, sondern eher kleine Daunenknäulchen und in Watte gehüllte Kugeln mit Beinen umher. Sie hatten rote Nasen und gute Laune. Die meisten waren aus Russland.

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„Vor deiner Ankunft war es hier voll heiß!“ sagt Luise. Und später erfahre ich: „Nach deinem Abflug haben wir noch`mal SO geschwitzt!“. Jetzt ist es zum klettern aber gerade zu kalt, es macht so einfach keinen Spaß. Wir fahren nach Olympos (Lykien) in der Hoffnung auf Plusgrade. Hier ist die Landschaft ein einziger Atemstillstand, mild und abenteuerlich weht eine unbekannte, friedliche Jahreszeit um mein Zelt. Die klippen sind Steil, die Farben wohlwollend und die Elemente vereinen sich am lykischen Weg.

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Die Zustiege sind halsbrecherisch, gewagt und dann: lohnend! Je mehr Überwindung es braucht, desto größer ist die Belohnung und Freude am Fels. Wir entledigen uns unserer Kleider und schreiten immer tiefer in den uns vom Fels trennenden Fluss. Die pochenden Nadelstiche der Kälte und des Windes ermutigen zum Weiterwaten, mit klarem Ziel vor Augen. Sobald wir unsere Füße wieder in den Socken spüren, geht es los. Wir klettern, was die Hornhaut an der Hand hergibt.

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Die Routen machen Spaß! So zerkletternwir unsere Schuhe, Hände und Beine am scharfkantigen Kalkstein und haben doch noch eine wunderschöne Kletterwoche.

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Kids in New York

Untergekommen zwischen Besteckkasten und Wohnzimmertisch in der Einraumwohnung einer fernen Bekannten tauchen wir tief ein in in das bunte afro-amerikanische Treiben Harlems. Erst nach Durchquerung des Central Parks winken uns Ralph Lauren, Chanel und Gucci aus ihren extravaganten, mystischen, absolut teuren Schaufenstern entgegen.

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Hallo Manhatten, du touristisches Großmaul, du Riesenkrake, du Mittelpunkt! Hier wird Stein auf Stein gesetzt, glasige Panoramafenster statt altbackene Verputzung gehören hier zum guten Ton. Heut geht es für uns hoch hinaus.

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Für andere….eher talwärts.

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Das vermuten wir zumindest, als wir es uns mit einer saftigen Melone aus China Town auf der Parkbank gegenüber des Gerichtsgebäudes gemütlich machen. Wir fahren auch ziemlich viel Bahn. Auf dem Weg zum American Museum of Natural History sind wir eine Strecke 3 Mal hintereinander gefahren, weil Breakdancer in der Bahn verrückte Salti, Rollen, Turtle und Sprünge vollführten (Ähnliches auf Video hier). Wann immer sie die Bahn wechseln – Wir sind ihre „Groupies“, wir wechseln mit! Ich empfinde das Amusement-Angebot in der Bahn und die Straßenmusik in den Bahnhöfen als höchst anspruchsvoll. Nun seit 4 Jahren fahre ich fast täglich mit der Berliner U8 und man gewöhnt sich an das immer selbe Lied vom immer gleichen Mundharmonikaner – trotz all meiner Bemühungen, nicht abzustumpfen! Auch der lieblos am Akkordeon zerrende „Hit the Road Jack“-Sänger würde sich sicher, wenn er könnte, eine Scheibe Passion und „Rythm“ von den jungen New Yorker Straßenkunstdarstellern abschneiden. Irgendwann ist auch Bahnfahren ermüdend. Und so steigen wir nun am Museum aus.

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Der briliante Ruf, der den New Yorker Museen vorauseilt, wird ihnen gerecht ! Es ist spannend, ergreifend und lohnend. In finanzieller Hinsicht vor allem für diejenigen, die wissen: Die 25,- $ Eintritt stehen zwar an vielen Museen außen dran, sind aber, was den Touristen meist verborgen bleibt, nur ein Vorschlag. Wer feierlich seine 1-Dollar-Note an der Kasse schwenkt, darf genauso alles bestaunen, sehen und betreten, wie jene, die sich mit dem „vorgeschlagenen“ Preis arrangiert haben. Somit leisteten wir im Foyer noch etwas Aufklärungsarbeit und tauchen dann ein, in eine erstaunliche Welt (Zum Video hier klicken).

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So durften wir New Yorks Schönheit besichtigen. Ein Traum für jeden Menschen, der Metropolen liebt oder es zumindest probieren möchte.

Kids in America

Robert und ich erkundeten für 2 Wochen den Bundesstaat New York an der nordamerikanischen Ostküste. Hier ist alles groß! Kühlschränke haben Kleiderschrank-Ausmaße und zwei Türen, die dicken Autos könnten getrost ein fünftes und sechstes Rad zu Stabilisierung gebrauchen und für das Studium aller Chipstüten im Supermarkt sollte man mehrere Tage einplanen. Sogar die Auswahl für die Übersetzung des Wortes „groß“ ist groß: huge, big, great, large, tall, grand, major, …

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Unser Urlaub war keine alpine Meisterleistung, und auch kein hartes Überlebenstraining. Wir begaben uns ganz in die übergewichtige Gemütlichkeit Amerikas. Nach 4 Tagen in New York City fuhren wir mit unserem gigantischen Mietwagen, welcher uns für die nächsten 8 Tage ein wohliges Zuhause bot, in Richtung Adirondack Park. Auf halber Strecke übernachteten wir am Waldrand nahe der Stadt New Paltz. Am sonntäglichen Morgen darauf war mir irgendwie nach Kirche, vielleicht würden wir Gospel-Gesang lauschen können. Im Zentrum der kleinen Stadt standen gleich mehrere Gotteshäuser nebeneinander. Wir betraten irgendeine. Eine halbe Stunde zu spät. 8 Gottesdienstteilnehmer drehten sich zu uns um. Wir wurden mit Gebetsbuch und Ablaufplan versorgt, erst dann predigte die Priesterin weiter. Genau hinter uns saß Betty. Am Ende des Gottesdienstes fragte sie, ob wir nächsten Samstag am Flohmarkt Dinge verkaufen möchten, die wir nicht mehr brauchen. Aber ich beharrte darauf, dass alles, was wir hier besitzen in 2 Rucksäcken im Auto liegt und wir diese sorgfältig gepackten Sachen unwahrscheinlich gern behalten würden.

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Rucksack? Wenig Gepäck? Sie übernachten im Auto? Betty witterte sofort, dass wir Kletterer waren und malte uns eine Weg-Skizze zu ihrem Haus. Dort würde ihr Mann uns ihre Jahreskarten für die Gunks (Shawangunks), das beliebteste Klettergebiet der Ostküste, geben. In den Reisevorbereitungen habe ich die Gunks aufgrund der täglichen Umweltgebühr von 14 Dollar sofort als Reiseziel ausgeschlossen. Und nun kletterten wir doch hier. Dank Betty.
Die Shawangunks gehören zum Gebirgszug der Appalachen und wurden 1935 von Fritz Wiessner als Klettergebiet entdeckt.

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Er hat dort etwa 50 Routen im Freikletterstil (also ohne künstl. Hilfsmittel) wie er ihn aus Sachsen kannte, erschlossen. Einige davon, wie z. B. Frog’s Head und Horseman habe ich nun in meinem Fahrtenbuch stehen. Das Gestein ist ein sehr festes, griffiges Quarzkonglomerat. Das Massiv erreicht bis zu 100 m Höhe und bietet eine wunderbare Aussicht über die bewaldete Ebene Richtung Osten und Hudson River.

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Wenn es abends dunkel wurde, fuhren wir zum Essen in die Stadt. Bald wussten wir, auf welchem Parkplatz der WLAN-Empfang am stärksten ist, wann welche Kinofilme liefen und wo es die billigsten Chinanudeln gab. Fast täglich besuchten wir den hiesigen Kletterladen und kauften den kompletten An- und Verkauf leer: Kletterseil, Daunenschlafsack, Friends, Karabiner und Keile.

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Die Ladenbetreiber schlossen uns in ihr Herz. Mat und Sebastian, 29 Jahre alt, sind kletterfanatisch, haben Kunst und Mathematik studiert und arbeiten im Kletterladen, um sich das Kletterleben finanzieren zu können. Sie boten uns eine Dusche bei sich zu Hause an. Woher wussten sie von deren Dringlichkeit ? Sie bekochten uns und bereiteten uns Betten. Es wurde bis in die Nacht geredet. Worüber wohl? Ihr könnt es euch denken!

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Am nächsten Abend umwaberte uns kriminelle Energie. Die Nacht wurde unser Freund. Im Schutze der Dunkelheit stibitzten wir einen Kürbis vom Felde und bereiteten ungestraft eine Dankes-Suppe für die Gastgeber. Schweren Herzens verließen wir diese kleine paradiesische Kletterwelt, um eine neue zu entdecken: Die Adirondacks.

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Die Adirondacks sind ein Landschaftsschutzgebiet, das sich über 24000 km² erstreckt und damit etwa so groß wie Mecklenburg-Vorpommern ist. Es gibt dort Biber, Elche, Schwarzbären, zahlreiche Vogelarten, viel Wald und natürlich auch Kletterfelsen. Wir fuhren zwei weitere Autostunden gen Norden. Die Bäume hatten sich in herbstliche Schale geworfen, der Altweibersommer funkelte uns entgegen. Leider hatten wir nur einen Tag, um in diese sagenhafte Wildnis einzutauchen, als königliches Willkommen und Abschied zugleich. Die Welt lag uns zu Füßen! Unser Ziel war die Chapel Pond Slab, eine 200 Meter hohe Reibungsplatte aus Granit.

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Wer hier klettern will, sollte ein Set von Friends und Keilen dabei haben. Gebohrte Haken und Stände gibt es (wie auch in den Gunks) keine. Davon, und auch von der Höhe der Wand, lässt sich der geübte Sachsenkletterer jedoch nicht beeindrucken: Die Neigung ist angenehm und die Füße stehen gut – und so waren wir bereits nach 3h oben, gemeinsam mit einer kanadischen Seilschaft.

Der Weg zurück nach New York City fiel mir schwer. Große Städte haben etwas Lebensfeindliches. Aber immerhin würden wir wieder ein Leben mit Körperhygiene führen. Und so endet unsere spannende Klettertour durch den Staat New York. Hier war wenigstens erlaubt, was Spaß macht: Chalk, Friends, laute bis kreischende Unterhaltung. Letzteres macht natürlich ausschließlich dem Praktizierenden Spaß. Ich hingegen wäre einmal fast abgefallen, weil ein extrem lautes Klettergirl mit ihrem huge Stimmorgan dringend berichten musste, dass es gerade eine 5.11 geknackt hat. „THIS WAS FUCKIN‘ AWESOME!“
Aber alles in allem: Ich würde jederzeit wieder in Amerika klettern – wenn die Sächsische Schweiz nicht auch so verdammt sächsi wäre!

Johanna Lamm

Nackt unter Hippies – Mein Leben in der Höhle

Meine Freundin Lovis und Ich haben Semesterferien und ganze 2 Wochen Zeit. Wohin wollen wir? Das Geld allein entscheidet und die mehrfach verklagte, kontrovers diskutierte und oft mit Inbrunst verfluchte Ausbeuter-Airline Ryanair ermöglicht uns einen umständlichen Flug zu den Kanarischen Inseln. Dieses Afrikanische Stückchen Spanien besteht aus sieben Inseln. Eine davon kennen wir schon: La Gomera. Hier wollen wir wieder hin, genauer: Zum Strand Chinguarime, da wir dort vor einigen Jahren Höhlen entdeckten, die leer standen. Verlassen von Gestalten, die dort zu kochen, zu wandmalen und zu leben pflegten. Gemütlich war es dort, sonnig und friedlich. Damals waren wir im Spätsommer da. Heute ist Frühling.

Die Fähre von Teneriffa spuckt uns in die abendliche Dunkelheit La Gomeras. Es wäre praktisch gewesen, Freunde auf der Fähre gefunden zu haben, dann müssten wir nicht allein den Weg suchen. In den Süden. Wo fuhr der Bus nochmal? Wann fährt der letzte? Diesmal haben wir nicht einmal eine Karte dabei. Doch da! Ein Herr mit Dreadlocks, Leinenhemd, bepackt mit schmantigem Rucksack und Gitarre überholt uns emsig. Er heißt Daniel, ist 29 Jahre alt und will eigentlich auf das Rainbowfestival.

Zum Glück dauern die Rainbow-Feierlichkeiten einen ganzen Monat an: Daniel hat Zeit und Lust, uns nach Chinguarime zu begleiten. Er findet den Weg im Schlaf, hat er doch vor 2 Jahren für 6 Monate hier überwintert. Nach einer 45 Minütigen Busfahrt treten wir den Fußmarsch an.

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Es ist eine Wanderung durch Gras, Geröll, über provisorische Treppen bis hin zu einem steilen Hang. Diesen zu überwinden bedeutet gleichsam, die Feuertaufe in die Welt der Steinzeit zu meistern. Vor 3 Jahren haben Lovis und ich uns noch für Schwimmen entschieden, da uns ein deutsches „Vorsicht Lebensgefahr!“- Schild Angst einjagte. Heute ist es dunkel. Kein Schild, dafür ein Daniel, der uns ohne zu zögern diesen Weg weist. Auf der Höhe angekommen haben wir freien Blick über die Bucht. Der Wind bringt Gitarrenklänge und Flötenspiel, viele kleine Gruppen sitzen um viele weit verteilte Lagerfeuer. Wir steigen mühselig ab und erreichen die ersten kleinen Höhlen in denen Menschen lungern, meditieren, lesen, traumdeuten, Mantren summen oder malen. Einige davon kennt Daniel und grüßt sie. Wir passieren kleine „Eigenheime“, die wir nur im unbewohnten Zustand kannten. Für uns ist keine Höhle mehr frei. Man verweist uns auf die große „Main-Cave“, die „Küche“, hier dürfe ausnahmsweise geschlafen werden. Wir setzen uns noch mit an eines der Lagerfeuer. Patric aus Frankreich hat heut seinen ersten Fisch gefangen. Wir dürfen alle kosten. Der Nächste Tag ist der Beginn einer 4 Tage anklingende Ode ans alternative Leben.

Wir lernen Wolfgang kennen. Er kann es kaum erwarten, dass wir aufwachen, damit er fragen kann: „Was habt ihr geträumt?“. Er hat sich autodidaktisch der Traumdeutung verschrieben, ist Freud-anhänger und scheut sich nicht davor, in anderer Leute Seele zu blicken um dort den faulen Kern zu erspähen und zu therapieren. Er ist einer der wenigen bekleideten Menschen.

Wir lernen Roland kennen. Er ist unbekleidet, ebenfalls aus der Sektion Traumanalyse. Ein schätzungsweise 28 Jähriges Alphatierchen mit Gorilla-Statur. Lebt seit 4 Monaten hier. Sein braun gebrannter, muskelbepackter Körper läuft beständig das Revier ab. Wo er ist, verbleibt man in Ehrfurcht. Er ist Flötenspieler und verdient sein Geld mit dem Verkauf selbstgebauter Flöten. Eigentlich lernen wir ihn nicht „kennen“. Wir hören nur, wie man über ihn redet, ertragen beschämt seinen Blick, der eindeutig Verachtung verheißt.

Daniel und Roland liefern sich ein heftiges Flöten-Duell quer durch Chinguarime
Daniel und Roland liefern sich ein heftiges Flöten-Duell

Daniel wurde bereits Opfer von Rolands vernichtender Seelenanalyse. Zitat Roland „Daniel, dass du meinen Namen gestern nicht mehr wusstest, zeigt dein ignorantes Wesen. Du hast ein wahnsinnig schlechtes Charakterprofil“. Das Wort „Charakterprofil“ ist übrigens eine Vokabel der Freud`schen Traumanalyse. Daniel spürt deutlich die schlechte Energie, die von Roland ausgeht und baut erst einmal einen Anti-Dämonen-Kreis aus Steinen und singt einen Dämonen-Vertreibe-Song.

Lovis und mir mangelt es zwar an Wissen über Dämonenkreise, an Bräune und Nacktheit. Dennoch entledigen wir uns mutig unserer Oberteile und barfuß laufen tut immer weniger weh.

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Wir fühlen uns wie zwei Fremdlinge, die sich an die Begebenheiten einer längst vergessenen Spezies anpassen möchten. Wir sind die Luschen mit den Flip-Flops, die Stadtkinder mit ihren Edeka-Haferflocken, die Brille viel zu poliert, um wirklich wild zu sein. Verräterisch sonnenverbrannt sind meine Waden, wir haben keine naturgeprüften, sonnengegärbten, ledrigen Gesichter. Unsere völlig unspirituellen Smartphones und Fotoapperate bleiben tief im Rucksack vergraben. Das ist der Grund für die wenigen Fotos, die ich schieße. Wir spüren am eigenen Leib, wie unterschiedlich die Toleranzgrenzen bei den Höhlenbewohnern sind. Einige sind einfach nur herzlich und heißen uns willkommen, aber für einzelne sind wir viel mehr unspirituelle, weiße Babylonier, als jene selbstsuchenden, freiliebenden, kindermachenden Dreadlocks, die hier sonst so her pilgern. Allein dass wir nur einige Tage bleiben wollen ist lächerlich. Unter vier Monaten redet kein Roland-Häuptling dieser Welt mit dir!

weiterer Blogbeitrag zum Thema: http://www.siliconweb.ie/lagomera2.php?include=lagomera/14-Jan-2007.php

Einst saßen wir mit Traumdeuter-Wolfgang in der „Küche“. Es war eines der vielen Stundenlangen Gespräche über die artgerechte Haltung des Menschen (Familie ist NICHT artgerecht, Kinder sollten spätestens mit 3 Jahren in einem Rudel mit lauter Gleichaltrigen leben und sich gegenseitig erziehen, ohne die Schädigungen der Erwachsenen, nur so könne es zu einer intuitiv gesteuerten, artgerechten Haltung kommen). Ab und zu klinkt sich der Jongleur (59 Jahre, Schweizer, dünn, nackt, braungebrannt, Kernkompetenz: 5 Keulen schwingen) mit ein.

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Der rasende Gorilla-Roland betritt den „Saal“. Wolfgang an Roland: „Und? Wann fährst du eigentlich ab?“ Roland: „Hmm, morgen geh ich aufs Rainbow, denke ich mal. Hab irgendwie nichts mehr zu tun hier. Ich kenne inzwischen alle, die hier sind. Außer die beiden, “ Er deutet auf Lovis und mich, „aber die sind mir zu weiß, da will ich keine Energie ins kennen lernen stecken.“

Lovis empört: „Pff“

Roland, nun erstmalig mit einem von uns sprechend: „Du fühlst dich doch jetzt nicht angegriffen, oder?“

Lovis: „Ein bisschen ausgrenzend ists schon!“

Im Anschluss wird sie als Mimose betitelt und muss sich verbal weiter behaupten, während ich schon über die Frage nachdenke, ob diese beiden Welten sich jemals miteinander arrangieren. Auf der einen Seite stehen wir (und ihr!): Babylon, Ratio-gesteuert, Intuition unterdrückend, kommerziell und systemkonform, bekleidet, voller Scham, westliche Bildung und vom „Über-Ich“ beschnitten. Hier in Chunguarime lebt man nicht nur mit der äußeren Natur, sondern auch näher an der inneren: Trauer- und Wutbewältigung besteht aus Brüllen und Steinewerfen (Electra, Mutter von 2 goldigen kleinen Kindern ist mit Roland eine sexuelle Beziehung eingegangen. Sie ist wütend, weil er das Interesse an ihr verloren hat und jetzt abreist). Es gibt wenig Privatsphäre (weshalb ich die Geschichte mit Electra weiß), allen gehört alles. Die Menstruation wird gern symbolisch in die Erde geblutet, der Stuhlgang erfolgt am Strand auf einen flachen, hand-großen Stein, der anschließend behutsam ins Meer katapultiert wird. Ziel ist es, sein inneres Kind zu finden, sein Ur-Selbst, den eigenen Ursprung, sich, in der aller reinsten Form. Ohne Schädigungen von Gesellschaft, Mitmenschen und Eltern. Mehr Dankbarkeit, Einklang, weniger Gift. Es klingt paradiesisch. Doch so erstrebenswert der Gedanke ist, so lehrreich diese Tage waren, wir verlassen diesen Ort mit gemischten Gefühlen. Und finden einen noch schöneren.

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137 Meter senkrecht -Klettern aus dem Meer

Die Hoynadel

Als ich meine Praktikumsstelle in Edinburgh erhalte, setzt Robert mir eine Flause in den Kopf: Der „Old Man of Hoy“ stünde da irgendwo im Norden Schottlands. Sofort schmeiße ich Google an und lerne: Er ist das Wahrzeichen der 143,18 km² großen Insel „Hoy“, eine der Orkney-Inseln im Norden Schottlands. 137 Meter hoch ragt der Turm (auf Englisch stack = Stapel) aus wunderschönem, rostfarbenen Sandstein aus dem Meer. Er ist der direkte Nachbar der zweithöchsten Kliffs Great Britains: St. Johns Head mit über 400 Metern. Bei seiner dreitägigen Erstbesteigung im Jahre 1966 (vom BBC live übertragen) fieberten 15 Mio Zuschauer mit.

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Wir brauchen also Muckies, ein Mietauto, einen Flug für Robert gegen Ende meines Praktikums, eine Menge Friends zum sichern und Glück mit dem Wetter.

In der Woche vor Roberts Ankunft in Edinburgh schaue ich mir täglich die fünf Seillängen der Routenbeschreibung an, verschwende aufgeregt meine Zeit mit völlig verfrühten, viel zu vagen Wettervorhersagen und starre immer wieder auf die Umrechnungstabelle für Schwierigkeitsskalen beim Klettern: Die Schwierigkeit für diese Felsnadel ist eine britische 5b, das ist in der T-Hall eine 7-. Ich bin schon einmal eine geklettert – und direkt nach dem Einstieg abgefallen! In Sachsen wäre das eine VIIIa. Für mich viel zu schwer. Aber, so rede ich mir ein, das wäre ja alles subjektiv und man müsse sich das vor Ort angucken. Zur Not prusike ich mich heimlich hinauf, wenn Robert gerade nicht guckt.

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Robert, Master of Linksverkehr,  bringt uns  immer weiter gen Norden. Ein Stop-and-Go der Gefühle: Mal will ich mutig endlich den Old Man besteigen, mal halten wir dann doch erst einmal zaghaft in Klettergebieten entlang des Weges, um uns noch etwas vorzubereiten. Körperliche Ertüchtigung ist oberstes Gebot und in meinem Fall absolut notwendig. Dennoch müssen wir auch das Wetter bedenken: Was nützt es gut eingeklettert zu sein, wenn man in der Zeit die einzigen 3 regenfreien Tage in diesem Monat auf Hoy verpasst hat? Oder: Was nutzt die Sonne auf Hoy, wenn wir nicht fit genug sind? Oh, zwei Herzen schlagen in unserer Brust. Wir entscheiden uns gegen einen weiteren Klettertag auf dem Festland und parken unser Auto an der Fährstation. Großes Umpacken der Rucksäcke: Alles, was überflüssig Spaß bereitet (wie Essen, Laptop, Bücher, frische Wäsche, Bier) kommt raus und alles, was Leben rettet (Seil, Helm, Klopapier) kommt rein.Bild

Die Fähre verfrachtet uns von Scrabster nach Stromness, eine Stadt auf der Hauptinsel, und wir finden Unterschlupf in einem Hostel. Wenn wir morgen wirklich nach Hoy wollen, dann mit der Fähre um 6.30 Uhr. Mit dem Klingeln des Weckers erwacht auch Roberts Unbehagen erneut: Wir sind einfach nicht eingeklettert. Nur ein Mal waren wir zuvor am Schottischen Fels gewesen. Kein Mal haben wir eine 5b geschafft  (mit „wir“  meine ich eigentlich mich). Ihm ist nicht wohl bei der Sache: Überhang, Schlechte Sicherung des Nachsteigers in der Querung, keine Kommunikation bei Wind, zu schwer, nicht genügend Friends in der richtigen Größe. Hat er etwa Recht?

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Ich jedoch habe mich seit Wochen immer wieder mit You Tube Videos vom Old Man heiß gemacht und kann seine Routenbeschreibung im Schlaf aufsagen. Jetzt will ich den Herren wenigstens einmal grüßen, ihn anfassen, sehen, wie er wirklich aussieht. „Ok, aber nur eine  Seillänge, Johanna“ –die einfachste. Sie kommt einem Spaziergang gleich. So hetzen wir doch noch zur Fähre und legen 20 Minuten Später auf Hoy an.

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Von Moaness muss man ca. 7 Meilen wandern. Auf und ab, durch baumloses Nass, Gras und Gestein. Wir kommen in eine Talenge, in der ich nicht umhin kann, das Offensichtliche auszusprechen: „Hmmm, wie in Tibet, oder?“- bloß mit mehr Sauerstoff im Blut. Die Weite, die Farben, eine Vorzeige-Tundra!  Wir tragen unsere insgesamt ca. 35kg entlang der menschenleeren Trampelpfade an zwei oder drei Bauerhöfen vorbei, bis wir am Strand von Rackwick aufs Meer Blicken können. Jetzt sind es noch 2 Meilen bis wir ihn sehen, den filigranen Kerl.

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Nach vierstündiger Wanderung stehen wir auf der Klippe gegenüber und stieren ihn ehrfürchtig an -für eine Ewigkeit. Wir identifizieren, wo die schwere Stelle ist, aber der Herr ist so gewaltig, dass mir die Relationen fehlen: Ist das da ein Faustriss, oder ein mannsbreiter Kamin?

Gegen 14.30 Uhr sind wir mit dem Starren fertig und  steigen fast eine Stunde lang zum Fuße der Nadel hinab.

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Es geht los: Die ersten 20 Klettermeter sind ein einziges Lustwandeln. Robert und ich besprechen nun alle Eventualitäten für die zweiten Seillänge, die 5b, die Krux, die kleine fiese Stelle. Er steigt in die Querung. Keine Kommunikation mehr. Zöge er fünf Mal am Seil, wüsste ich, dass er die Stelle für „zu schwer für Johanna“  befinden und zurück seilen würde, ohne mich nachzuholen.

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Ich habe das Gefühl, dass Robert „Aussichern!“ schreit. Aber was tun, wenn man sich da unsicher ist? –im doppelten Sinne. Ich bleibe in Sicherung. Das Seil wird kontinuierlich eingezogen und auch nachdem langsam und kriechend 40 Meter durch meinen HMS gelaufen sind, bringe ich es nicht übers Herz, Robert „auszusichern“. Bis ans Ende der Welt hätte ich ihn gesichert. Ich rufe ein formelles „Dran!“ in den Wind und klettere los. 5-6 Meter quer, dann hoch. Überhang Nr. 1 ist kein Problem, Überhang Nr.2  ein riesiges! Der Hals ist trocken vom Hecheln und mir rieseln an die 2 Zentner Sand in die Augen, welche sich mit verzweifelten Tränen füllen. Mehrmals sitze ich im Gurt. Wie soll das denn gehen? Ich fluche (sehr!) und finde keine Lösung. Immer wieder falle ich unter größter Anstrengung ab und jammere. Dann stöhne ich mich doch nach oben –Huch? Klettern statt Jammern, das könnte der Schlüssel sein.

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Ab jetzt wird nur noch genossen (und gefroren). Die Höhe, die Weite, die Kletterei. Möwen umkreisen uns neugierig, Robben winken amüsiert aus dem Wasser und der Wind bläst uns bis auf die Knochen. Mit roten Nasen stehen wir nun auf der Felsnadel, dem Wahrzeichen zu Hoy und haben ihn „bezwungen“. Ich versuche, Glück zu verspüren und frei und stolz auf das Meer zu schauen. Aber nicht nur die stürmische Kälte zerrt an meinen Gedanken, sondern auch das Wissen, dass das Abseilen nun noch einmal ein größeres Projekt würde. Außerdem  würden wir in Dunkelheit geraten.

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In Vier Etappen seilen wir uns ab, wobei die letzte den größten Nervenkitzel bereitet. 50 Meter geht es vom Überhang nach unten, ich hänge frei in der Luft, 10 Meter vom Fels entfernt. Glucksen, Juchzen, vergnügte Herzsprünge, eine unendliche Fahrt nach unten. Hier bleibt die Zeit stehen, inmitten der Dämmerung. Erst am Fuße des alten Mannes angekommen ist es Zeit für ein herzliches, erleichtertes und stolzes „Berg heil!“.

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Im Dunkeln schlagen wir unser Zelt nahe der Aussichtsplatform auf und abendbroteten, was wir uns seit Tagen vom Munde absparten – Köpergewicht bedingt. Ein Festmahl in der Nacht. Unsere Tanzmusik ist der Wind, der rhythmisch am Zelt zupft. Geschafft!

Propper bestückt mit einem Ganzkörper-Muskelkater laden wir das Gepäck auf unsere Rücken. Gehen wir wirklich denselben Weg zurück, den wir gekommen waren? Robert guckt mich mit diesem „Haben wir noch Zeit für eine Abkürzung?“- Blick an und 3 Stunden später stehen wir auf dem Gipfel des zweithöchsten Berges der Insel (Hoy bedeutet: „die hohe Insel“). Hier entlang, so Robert, ginge nun einmal der kürzeste Weg. Und mit „Weg“ meine ich „Tundra“! Steile rutschige Grashänge klafften vor uns. Robert, mit seinem 20-Kg-Rucksack, brennen die Oberschenkel vom Abstieg. Jeder von uns stolpert und stürzt vor sich hin. Die Füße knicken weg. Alle 10 Minuten gönnen wir uns die Erfüllung aller Träume, geben uns der Schwäche hin und bleiben einfach im weichen Moosbett liegen. Dieser Abstieg bleibt für die nächste Woche unvergessen, erinnert uns doch jede Beinbewegung an diesen wundervollen, sonnigen, letzten Tag auf der Insel Hoy.

Mt. Everest, Buttertee und 100 Gerüche

5 Wochen in China und Tibet

Am 28.8. um ein Uhr morgens landen wir in der Hauptstadt eines Landes, in welcher sogar Roberts ausgesprochen schlechte Nase viel zu riechen hat. Gullie, Smok, Menschen, nie gekannter phantasie-anregender Gestank ! Ich beschließe, nicht zu atmen. Sofort werden wir als Touristen entlarvt, unser überforderter Gesichtsausdruck scheint die illegalen Taxifahrer mit PrivatPKW nur mehr zu ermutigen, uns energisch in Ihre Autos zu winken. Nahezu wiederstandslos, überfordert und –müdet  lassen wir uns ins Motel 268, östlich der verbotenen Stadt, bringen.  Tags drauf : Der Schnellzug bringt uns von Beijing nach Shanghai und dann weiter nach Changzou. Roberts Freund Zijhie Lu lebt und erwartet uns dort. Das Wiedersehen der beiden wird  in einem traditionell chinesischen Nobelrestaurant bei Enten-Hals-Salat und Schweinehaut-Suppe gefeiert. Ich spüre tief in mir die Vorahnung, dass das Chinesische Essen und ich nach dieser Reise keine guten Freunde mehr sein werden. Und auch meine Fähigkeit zur Deutschen Sprache, damit finde ich mich in diesem Moment ab, wird etwas verkümmern. Der einzige, mit dem ich diese Sprache trainiere, ist Robert. Schon jetzt stottern wir uns auf deutsch-englisch an. Im Hotel beschimpft er die Klimaanlage als „waste“ und „uncomfortable“. Es rentiert sich der obligatorische Flugzeug-Decken-Diebstal in diesem Air-condition-Land.

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Wir verbringen eine Woche bei Lu. Sie steht ganz im Zeichen des E-mail-Wechsels mit tibetischen Agenturen und der Planung der weiteren Reise. Ein filmreifes Auf und Ab! Werden wir den Mt. Kailash umrunden? Werden wir danach arm sein? Werden wir überhaupt nach Tibet kommen? Wird die Zeit reichen? Wie sind die Gesetze? Es hagelt Ideen, Zweifel, aufkeimende Hoffnung. Pläne werden gebastelt, verteidigt, dann doch umgestoßen. Eine Zitterpartie. Wir erfahren von der Unmöglichkeit, das Dach der Welt autonom, selbstbestimmt und spontan zu bereisen und davon, dass ausgerecht ein traditionell tibetisches Joghurtfestival einen Bearbeitungsaufschub unserer Anträge und einen Zeitverlust beschert. Wenn jemand Joghurt verehrt, dann ja wohl ich. Aber doch nicht so..

Für den Mt Kailash reicht die Zeit nicht mehr. Und das Geld auch nicht.

Am 2.9. checken Robert und ich im „le tour travellers hostel“ nähe der Französischen Kolonie in Shanghai ein.  Eine Unterkunft, in der Aufwachen und Einschlafen ein Fest ist. Hier fühlt man sich pudelwohl. Shanghai bietet neue Dimensionen von Stress, Ästhetik, Kleidung, Weltlichkeit. Ich lerne, dass chinesische HipHop-Musik mich irgendwie zum lachen bringt, dass man NIEMALS Klopapier in die Toilette werfen soll und dass „Ganzkörpermassage“ von nun an ein angstauslösendes Wort für mich sein wird. Zusammen mit weiteren Freunden Roberts besichtigten wir  das „Shanghai-Museum“, die „Propaganda Poster Art Collection“ und Parks und Restaurants und Bars und Gassen und Möbelläden und…

6.9.11. Dieser Hartschläferwaggon des Zuges beherbergt derzeit 66 Reisende. Zwei Davon sind Robert und ich: auf dem Weg, quer durch das Land nach Xining! Die fahrt dauert 36 Stunden. In 3-stöckigen Betten erleben wir das sonderbare Volk hautnah. Schmatzen, husten, keuchen, röcheln und spucken gehört hier zum guten Ton. Manchmal ekelt es mich. Dennoch sind wir hier alle eine große Familie. Allerdings macht mich das Rotze-hochziehen zuweilen wahnsinnig. Ich würde gern eine Runde Taschentücher für das Abteil spendieren. Wie auch die schönsten Frauen zu markerschütternd ekeligen Geräuschen fähig sind… . Doch nach einiger Gewöhnungszeit kann ich nicht anders, als mich eingeladen fühlen, meine eigene Erziehung zu vergessen und kräftig mitzu…                                                                                  

Zum Frühstück isst ein Mann Hühnerfüße.  Er  beißt zuerst den Mittelzeh ab. Die Schaffnerin knackt sich Haselnüsse im Zug-Tür-Rahmen. Der Westen Chinas ist bald erreicht! Berge, Täler, Dörfer, der gelbe Fluss. Direkt hinter der Fensterscheibe!

Im Xining angekommen, verrät uns das Internet: unsere Permits, Genehmigungen und Dokumente sind ausgestellt! In 2 Tagen können wir weiter nach Tibet. An Zugtickets ist nur mithilfe Einheimischer heranzukommen. Früh am Morgen wird ein Großteil der Tickets von einer Mafia aufgekauft und verscherbelt. Wir sind dankbar für die Hilfe eines Reisebüros, welches wir direkt 1 Etage über unserem Hostel erreichten. 4 Stunden vor Abfahrt unternehmen wir noch ein paar kleine Akklimatisationsversuche auf den umliegenden Hügeln, dann gilt es: 24 Stunden Zug fahren. Diesmal nicht im hard-sleeper, sondern im hard-seater! HART-SITZER. Um es sich noch einmal auf der Zunge zergen zu lassen. Wir sitzen umringt von Tibetischen Einheimischen und Bauern.  Robert liebäugelte sogar mit den ganz besonders Preiswerten Tickets für Stehplätze. Egal welches Ticket: es ist mir unerklärlich, wie diese 1900 km lange Zugfahrt weniger kosten kann, als jene von Berlin nach Dresden! Und dann ist es auch noch die schönste, aufwändigste und höchste Bahnstrecke der Welt. Ingenieur-mäßig anspruchsvoller – gabs noch nicht. Und der Panorama-Blick hinter der Scheibe zeigt TerraKotta-Farben, Berge, Schnee-Koppen, Gras-Steppe, Flüsse, Yak-Herden, Strommasten, Brücken, Täler und Weite. Robert und ich sind für die nächsten 17 Tage offiziell eine Reisegruppe. Romantisch! Im Zug sitzen wir mit Alten zusammen. Sie tragen wunderschöne Gewänder, Schmuck, Zöpfe, Jacket, etwas dreckug und muffelig, aber gemütlich! Sie haben eine liebevolle und weise Ausstrahlung. Sogar die verfaulten Zähne sind charmant.

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Dennoch, die Zugtoilette hier ist genauso frisch und fröhlich verstopft, wie im hardsleeper nach Xining, und jeder pullert und kackert munter weiter in den überschwappenden See aus geduldig zusammengesammelten Fäkalien. Auch hier gilt:  Schnürsenkel der Schuhe NIEMALS hineinschleifen lassen. Es wird immer lustiger mit den in 1000 Gewänder gewickelten schönen, alten Frauen und Männern. Und sie sind so laut, die ganze Zeit! 6 Stunden vor Ankunft steigt eine Horde 40 junger chinesischer  Soldaten  zu. Die Geräuschkulisse in unserem Abteil steht nun ganz im Zeichen barbarischer KungFu-Abschlachtungsfilme auf Laptops. Die Tibeter verlassen das Abteil.

Im nächtlichen Lhasa wird unsere „Reisegruppe“ von einem kleinen Bus abgeholt. Uns wird vom Guide ein weißer Seidenschal als Willkommensritual um den Hals gelegt, bevor der Fahrer uns zum Snowland-Hotel bringt. Nun fühle ich mich zu 100% als TOURIST. Eine Touristin, der von nun an das Gepäck aufs Zimmer getragen wird. Meine Akklimatisation steht noch in den Kinderschuhen, die Treppe des Hotels ,und die des Klosters Drepung am Folgetag, machen mich zu einer nur noch aus keuchender Lunge und einem Turbo-Puls bestehenden Johanna. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich nicht, dass dieses Gefühl von Anstrengung ,im Vergleich zum Kommenden, noch der reinste „Kindergeburtstag“ ist. Tags darauf fährt uns der Reisebus mit Guide und Fahrer nach Tsedang und am folgenden Morgen weiter nach Samye. Von dort wird unsere Wanderung beginnen. Wir werden dort für 2 Tage Gast im Klösterlichen Gästehaus. Der Guide stellt uns unseren Wegbegleiter vor:  Norbu, unser Koch. Er weiß den Weg, spricht kein Englisch, versteht aber recht viel und ist ein guter Geselle. Nun hat dieser Koch aber so viel Gepäck, dass er ein Yak braucht, mindestens ein Pferd. Lange diskutieren wir, dass wir so viel Gehilfen garnicht möchten, aber den Tibetern ist kein Verständnis für Spaß am Gepäckselbertragen abzuringen. Robert und ich willigen also ein und gehen hinüber zum Kloster um Mönchen beim brummen und meditieren zuzuhören, um Gesäge zu belauschen, die von Dächern in Chören ins Tal gerufen werden, um die Sonne, die Höhe, die Schafherden zu genießen.

Am 12.9 beginnt unsere Wanderung von Samye nach Ganden. Ist der Trekking-Schuh ersteinmal ordentlich mit Yank-Schmodder veredelt, flutscht man nur so feuchtfröhlich dahin, durch diese Landschaft, die einem den Atem stocken lässt. Wobei, gerade atmen lässt es sich hier ausgezeichnet.Bei kaiserlichstem Hoheitswetter waten wir am reißenden Fluss entlang. Erst jetzt fühle ich: ich bin angekommen! Zwar schmeckt es uns noch immer nicht so recht, über diesen ominösen „governmental“ Touristen-Kamm geschert zu werden, aber da ist nichts zu machen.

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Der schlaue und erfahrene Wandersmann trägt einen Hut auf dem Kopf. Nicht so Robert und ich, die wir jetzt mit krebsroten europäischen Gnubbel-Nasen die Einheimischen verschrecken. Wenn ich mich auf die Wiese lege, legt mir Koch Norbu gleich seine Handschuhe als Kopfkissen zurecht. Selten darf ich meinen Rucksack selbst tragen, nichteinmal die kurze Strecke zwischen Zelt und Pferd!  Und so gehe ich weiter meinen Weg als echte Prinzessin. Norbu und der Pferdemann sind unglaublich erfrischende, fröhliche Gesellen. Waschechte Tibeter. Weiße Zähne, pfeifend, singend, albernd, immer lachend!  Doch der Genuss von Ruhe in der Natur scheint eher der Wunsch von Europäern und Großstädtern zu sein, denn das Handy des an die 20 Jahre Alten Pferdejungens brüllt mit schier endlosem Akku die 3 tibetischen Hits `rauf und `runter. Ist das Handy aus, wird selbst gesungen oder gepfiffen. Das wiederum klingt stimmig, schön, gekonnt, beherzt! Treffen wir in all der Weite und Einsamkeit doch einmal auf ein Dorf, ein Normadenzelt oder einen Hirten: Norbu weiß immer ein ausgedehntes Gespräch mit ihnen anzufangen. Dank ihm kehren wir unterwegs mehrmals in Normadenzelten ein, bekommen Yakfleisch und Buttertee und sehr viel Aufmerksamkeit von den fleißigen Hochländern. Wehe die Buttertee-Tasse ist halb leer! Sie wird sofort gefüllt. Mir wird unerklärlich bleiben, in welcher Geschicklichkeit Tibeter in der Lage sind, nur mit ihrem Schneidezähnen innerhalb einer Bewegung den Sonnenblumenkern von der Schale zu befreien und nebenbei wegzu“snacken“, während ich kein Bisschen klar komme mit den Spänen im Mund und dem zerbröselten Kern bei  ungeschicktem draufbeißen . Abends gibt die Autobatterie der Normadenfamilie den Strom für Licht im Zelt aus Yakwolle.

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Am 15.9 überschreiten wir den Chitu La, einen Pass auf 5100m! Ich leide, kämpfe, jammere, flenne, beiße den ein oder anderen Zahn zusammen.Ich  Muss sogar von Norbu wie ein kleines Kind an die Hand genommen werden, weil ich sonst nicht mehr weiter gelaufen wäre. Nicht weil ich nicht wollte, sondern nicht konnte. Mein Jammern half mir, mich einigermaßen bei Laune zu halten, über Übelkeit und Kopfschmerz hinweg. Ich mag Sauerstoff sehr! Am Ende der Etappe, als wir einzeln durch einen Fluss reiten, bäumt sich ein letztes, erschöpftes Wachheitsgefühl in mir auf, bevor ich vollends erschöpft und noch eine ¾ h stöhnend und wimmernd ins auf 5000m Höhe stehende Zelt falle. Aus irgendeinem Grund begleitet uns seit Tagen ein Hund. Er kommt mit über den Shug-La-Pass (5250m) nach Ganden. Dort werden der Pferdejunge, Der Koch, das Pferd, Robert , der Hund und Ich vom Fahrer des Jeeps in Empfang genommen, der uns zurück nach Lhasa bringt.

Wir besichtigen den Potala! Wir umrunden heilige Tempel. Wir kaufen Teppiche und Kissenbezüge. Wir schlemmen! Und am 19.9 brechen wir auf zu unserer 2. Tour nach Tsurpu. Koch Norbu, Robert und Ich werden von einem Ehepaar beherbergt. Seit Beginn der Reise tragen wir 3 Lesebrillen mit uns herum, in der Annahme, dass irgendwelche Mönche irgendwo in irgendeinem Kloster diese brauchen und sich darüber freuen. Die Zeit ist gekommen. Mit Norbu laufen wir hinüber zum Kloster und reichen den Mönchen unsere Geschenke. Sie werden beäugt, ausprobiert, viel herumgereicht, auf- und abgesetzt, man sieht in die Ferne damit und dann auf die Hand vor dem Gesicht. Immer mehr Mönche versammeln sich auf dem Hof und um die Brillen. Wir verstehen nichts von der hitzigen Diskussion! Ach hätten wir doch wenigsten ein Foto gemacht!

20.9.11. Die Königsetappe ist gemeistert, 2 weitere 5000er sind bestiegen bzw. Überquert und wir liegen satt und faul im im so langsam recht vertrauten, fast schon lieb gewonnenen Yak-Fladen auf einer sonnenbeschienen Wiese im Tal Yangpachen. Diese Tour wird mit freundlicher Unterstützung zweier Yaks durchgeführt. Der dazugehörige Yak-junge wird seinem Vorgänger leider nicht gerecht, was das Singen am Morgen und das weiße Lächeln angeht. Nach einem sanften und nicht sehr langen Aufstieg gelangen wir in das von mir benannte „Höllental“ mit verlassen umwindeten Steinhäusern, unzähligen, verteilten Totenschädeln, Wirbelsäulen und Rippen. Verwesende Tierteile so weit das Auge reicht. Ich hätte mir eine 3km lange Halskette aus Yak-Zähnen fädeln können. Unweit dieses Grusels schlagen wir auf 5090m unser Nachtlager auf um am nächsten Morgen weiter zu Wandern. Um mich gegen Abend etwas zu bespaßen, versuche ich, in alle erdenklichen Stadien gereifte Yak-Scheiß-Haufen anzuzünden. Ich habe beobachtet, wie schnell sie Feuer fangen, wenn Tibeterinnen uns damit Suppe oder Buttertee erhitzen.                                                 Wir sehen Wildpferde, Herden von Blauschafen, unzählige Yaks, Murmeltieren, Mäuse, Esel…alle da!  In den Nähten meiner nun seit 3 Wochen getragenen Hose hat sich gar abwechslungsreicher Dreck angesammelt, meine Socken sprechen Bände, jeder Fleck auf der Jacke erzählt Geschichten. Der Fleecepulli ist übersäht von Daunenfedern und zeugt von Kuschelig-warmen Yeti-Nächten. Die zweite Wanderung ging unglaublich athmosphärisch zu Ende. Zum Schluss, das Dorjeling-Nonnenkloster schon in Sichtweite, schreiten wir mehrere Stunden über den gebirgigen „Truppenübungsplatz“ der chinesischen Armee. Norbu ermahnt uns mehrmals, auf keinen Fall Fotos zu machen, da er arge Probleme zu befürchten hat. Schon am Vortag hörten wir das Donnern der Artillerie, Berge dienen als Zielscheibe, sind mit Riesigen Nummern versehen. Und mittendrin: Das Kloster! Hier entließen wir den Yackjungen, er kehrte um. Mehre Stunden warteten wir, von dort abgeholt zu werden und hatten viel Zeit für Beobachtungen. Soldaten tragen emsig Glasscheiben ins Kloster, da wegen der Schießübungen Tags zuvor einige Scheiben des Gebäudes zerschellten! Die armen Nonnen! Manche von Ihnen waren sehr hübsch, alle mit kurz geschorenen Haaren, sehr geschwätzig, eher entspannt als verbissen fleißig. Sie hocken sich zum Pullern auf die weite Bergwiese, ganz ohne die Rot-Orange-Farbene Kutte anzuheben, sie umruden Tschörten, Singen, betet auf bereits erwähnter Wiese. Nach diesem 7-stündigen Abstieg reisen wir ein weiteres Mal zurück nach Lhasa.

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Am 22.9.11 holt uns der Jeep pünktlich zur kleinen Himalayakreuzfahrt ab. Und diese Soldaten überall! Kilometerlange Armee-Transporter-Schlagen auf der Straße, diese riesigen Soldaten-Camps! Und obgleich das Auge diesen Anblick nie vergessen kann: Fotografieren verboten! Unvergesslich bleibt auch diese 2-tägige Jeepfahrt. Wir sehen Tibets Weite, Ferne, Höhe, Zivilisation, Dörfer, Seen, Auto-Pisten. Es ist keine einzige Sekunde langweilig, schon gar nicht die letzten, huckeligen, sandigen, löchrigen Kilometer zum Mt. Everest Basecamp. Die 8844 m hohe Spitze zeigt sich nur flüchtig am Morgen, wir beargwohnen die Wolken.  Es ist doch eitel und  gemein vom Berg. Dann beschließen wir, es einfach spannend zu finden.

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Verweilend, wartend, glotzend, hoffend und wandernd in der Nähe des Basecamps, erleben eine sternenklare, kalte, doch kuschelige Nacht in einem der Yak-Zelte am Fuße des Riesen und reisen sodann ein letztes Mal und endgültig zurück nach Lhasa. Diesen letzten Tag zelebrieren Robert und ich auf Rädern. Wir durchfahren Lhasa, lassen uns von Polizisten von Plätzen scheuchen ,ermahnen und vom Radl rupfen. Wir ernten Pfiffe, Kommentare, Gelächter,  sind schnell wie der Wind, beflügelt, übermütig, rasen durch die Gassen, bis der Hunger uns zum Anhalten zwingt. In irgendeinem Restaurant tippen wir in irgendeiner Menü-Karte auf irgendein tibetisches Zeichen und bekommen darauf hin eine der besten Mahlzeiten der Reise serviert. Ich wünschte, ich wüsste, was es war! Gestärkt fliegen wir förmlich weiter durch die Stadt und ich wage das Verbotene: Ein Foto von den Soldaten. Und werde nicht erwischt.

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Auf der 48 stündigen Zugreise gehen mir all die Buddhistischen Riten und Bräuche durch den Kopf. So ein Buddhist in Tibet hat viel zu tun: Tschörten umrunden, Klöster, Heiligtümer und Bilder anbeten, sich unaufhörlich aufrappeln, zu Boden werfen und wieder aufrappeln, Gebetsmühlen schwingen, meditieren, singen, beten, brummen, Schüsselränder mit dem Mörtel umfahren, Gebetsfahnen in der Landschaft verteilen… An erster Stelle steht das Pilgern. Die Pilgerwege sind und bleiben heilig, auch, wenn sie sich mit einer Schnellstraße decken: es wird andächtig gewandert, während alle 2 Minuten ein Jeep mit 120 km/h zwei Meter neben den pilgernden Herrschaften hupend vorbeirast.  Rückblick: Alles, was an der Straße den Daumen herausstreckt, wird von uns im Jeep mitgenommen. Als wir in einem Dorf an einer Schule vorbei fahren, stehen nach Schulschluss geschätzte 20-30 Kinder am Straßenrand, die alle in umliegende Ortschaften verteilt werden wollen. Eine Dreiergruppe 10-jähriger Dorfkinder quetscht sich neben Robert und mich. Ein weiteres mal, als Robert den Fahrer mit einem „Please pick him up!“ auf einen Tramper hinweist, antwortet dieser: „He is Chinese!“. Roberts ungewollt mehrdeutige und politisch doch recht kühne Antwort: „Doesn´t matter!“. Auch, wenn er seinen Armee-Anzug gegen Treckingkleidung getauscht hat, in Tibet gibt es keinen 18-26 jährigen männlichen Chinesen, der NICHT Soldat ist. So auch er. Ich finde, Robert hat unserem Jeep-Fahrer und dem Guide recht viel Nächstenliebe abverlangt. Dementsprechend interessant ist auch die Atmosphäre im Wagen. Bis der Chinese kurz vor der Nepalischen Grenze wieder aussteigt.

Im Allgemeinen gilt: Jeder, der auch nur den Hauch eines einigermaßen traditionellen Tibets besuchen und entdecken will, sollte dies keine Sekunde länger heraus zögern! Der chinesische Einfluss mit all den Soldaten, Schnellstraßen, Checkpoints und  Touristenschleusen, mit all den roten China-Fahnen, die den Tibetern auf das Dach gezwungen werden und all den unzähligen Verboten und Einschränkungen (Nicht nur für Ausländer) macht das Land nach und nach ungenießbar. Oder zumindest sehr „chinesischer“.

Am 29.9.11 sind wir wieder in Peking. Geruchsmäßig hält sich diesmal der Schock in Grenzen. Auch an die Menschenmassen können wir sehr entspannt entgegentreten: sie reichen uns ja nur bis zum Bauchnabel. Aus diesem Grund bekomme ich nicht einmal Platzangst in der U-Bahn. Wir bereisen die Chinesische Mauer und wandern auf einem touristisch sehr abgelegenen Geheimtip-Mauerstück mit jungen Leuten, die sich im Hostel mit uns zusammen taten. Ein sonniges Finale unserer Reise, welche bei der Ladung am 02.9.11 ihr Ende nimmt.

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