Klettern und frieren in Antalya

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Die Wortgruppe „Kletterurlaub in der Türkei“ hatte für mich ursprünglich etwas sommerliches. Da schwang immer ein wenig sonnendurchtränkter Olivenduft, Meeresrauschen und Sonnenbrand mit. In meiner Vorstellung war es mutig und gewagt, die Sonnenchreme zuhause zu lassen. Nein, in meinem Handgepäck ist nur Platz für Chalk, Klettergurt und Karabiner. Daunenjacke? Mütze? Ach quatscht, ich fliege doch zum klettern hin, nicht zum frieren! Nun. Wer nicht denken will, muss fühlen. Vor allem Nachts. Allein. Im Zelt. Mit Eisschicht drauf.

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Freundin Luise und ihr Reisegefährt und Freund Christian holen mich mit ihrem Buli vom Flughafen ab. Sie selbst befinden sich am Ende eines monatelangen Klettertrips durch den Süden Europas über Bulgarien bis in die Türkei. Der Buli hat ganze Arbeit geleistet und den beiden ein entzückendes, kleines, perfektes Zuhause geboten. Für eine Woche darf ich Gast sein.

Wir fahren ins Sportklettergebiet Geyikbairi, unweit von Antalya. Die erste Nacht überstand ich frostfrei und am Folgetag schien die Sonne. Ganze zwei Stunden. Für diese Zwei Stunden war ich perfekt vorbereitet und eingekleidet, der restliche Urlaub sollte mir eine Lehre sein: Auch in der Türkei darf der Monat Januar mit etwas „daunigem“ wie „Daunenschlafsack“ oder „Daunenjacke“ assoziiert werden. Auf dem Zeltplatz zu Geyikbairi liefen eigentlich keine Menschen, sondern eher kleine Daunenknäulchen und in Watte gehüllte Kugeln mit Beinen umher. Sie hatten rote Nasen und gute Laune. Die meisten waren aus Russland.

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„Vor deiner Ankunft war es hier voll heiß!“ sagt Luise. Und später erfahre ich: „Nach deinem Abflug haben wir noch`mal SO geschwitzt!“. Jetzt ist es zum klettern aber gerade zu kalt, es macht so einfach keinen Spaß. Wir fahren nach Olympos (Lykien) in der Hoffnung auf Plusgrade. Hier ist die Landschaft ein einziger Atemstillstand, mild und abenteuerlich weht eine unbekannte, friedliche Jahreszeit um mein Zelt. Die klippen sind Steil, die Farben wohlwollend und die Elemente vereinen sich am lykischen Weg.

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Die Zustiege sind halsbrecherisch, gewagt und dann: lohnend! Je mehr Überwindung es braucht, desto größer ist die Belohnung und Freude am Fels. Wir entledigen uns unserer Kleider und schreiten immer tiefer in den uns vom Fels trennenden Fluss. Die pochenden Nadelstiche der Kälte und des Windes ermutigen zum Weiterwaten, mit klarem Ziel vor Augen. Sobald wir unsere Füße wieder in den Socken spüren, geht es los. Wir klettern, was die Hornhaut an der Hand hergibt.

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Die Routen machen Spaß! So zerkletternwir unsere Schuhe, Hände und Beine am scharfkantigen Kalkstein und haben doch noch eine wunderschöne Kletterwoche.

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137 Meter senkrecht -Klettern aus dem Meer

Die Hoynadel

Als ich meine Praktikumsstelle in Edinburgh erhalte, setzt Robert mir eine Flause in den Kopf: Der „Old Man of Hoy“ stünde da irgendwo im Norden Schottlands. Sofort schmeiße ich Google an und lerne: Er ist das Wahrzeichen der 143,18 km² großen Insel „Hoy“, eine der Orkney-Inseln im Norden Schottlands. 137 Meter hoch ragt der Turm (auf Englisch stack = Stapel) aus wunderschönem, rostfarbenen Sandstein aus dem Meer. Er ist der direkte Nachbar der zweithöchsten Kliffs Great Britains: St. Johns Head mit über 400 Metern. Bei seiner dreitägigen Erstbesteigung im Jahre 1966 (vom BBC live übertragen) fieberten 15 Mio Zuschauer mit.

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Wir brauchen also Muckies, ein Mietauto, einen Flug für Robert gegen Ende meines Praktikums, eine Menge Friends zum sichern und Glück mit dem Wetter.

In der Woche vor Roberts Ankunft in Edinburgh schaue ich mir täglich die fünf Seillängen der Routenbeschreibung an, verschwende aufgeregt meine Zeit mit völlig verfrühten, viel zu vagen Wettervorhersagen und starre immer wieder auf die Umrechnungstabelle für Schwierigkeitsskalen beim Klettern: Die Schwierigkeit für diese Felsnadel ist eine britische 5b, das ist in der T-Hall eine 7-. Ich bin schon einmal eine geklettert – und direkt nach dem Einstieg abgefallen! In Sachsen wäre das eine VIIIa. Für mich viel zu schwer. Aber, so rede ich mir ein, das wäre ja alles subjektiv und man müsse sich das vor Ort angucken. Zur Not prusike ich mich heimlich hinauf, wenn Robert gerade nicht guckt.

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Robert, Master of Linksverkehr,  bringt uns  immer weiter gen Norden. Ein Stop-and-Go der Gefühle: Mal will ich mutig endlich den Old Man besteigen, mal halten wir dann doch erst einmal zaghaft in Klettergebieten entlang des Weges, um uns noch etwas vorzubereiten. Körperliche Ertüchtigung ist oberstes Gebot und in meinem Fall absolut notwendig. Dennoch müssen wir auch das Wetter bedenken: Was nützt es gut eingeklettert zu sein, wenn man in der Zeit die einzigen 3 regenfreien Tage in diesem Monat auf Hoy verpasst hat? Oder: Was nutzt die Sonne auf Hoy, wenn wir nicht fit genug sind? Oh, zwei Herzen schlagen in unserer Brust. Wir entscheiden uns gegen einen weiteren Klettertag auf dem Festland und parken unser Auto an der Fährstation. Großes Umpacken der Rucksäcke: Alles, was überflüssig Spaß bereitet (wie Essen, Laptop, Bücher, frische Wäsche, Bier) kommt raus und alles, was Leben rettet (Seil, Helm, Klopapier) kommt rein.Bild

Die Fähre verfrachtet uns von Scrabster nach Stromness, eine Stadt auf der Hauptinsel, und wir finden Unterschlupf in einem Hostel. Wenn wir morgen wirklich nach Hoy wollen, dann mit der Fähre um 6.30 Uhr. Mit dem Klingeln des Weckers erwacht auch Roberts Unbehagen erneut: Wir sind einfach nicht eingeklettert. Nur ein Mal waren wir zuvor am Schottischen Fels gewesen. Kein Mal haben wir eine 5b geschafft  (mit „wir“  meine ich eigentlich mich). Ihm ist nicht wohl bei der Sache: Überhang, Schlechte Sicherung des Nachsteigers in der Querung, keine Kommunikation bei Wind, zu schwer, nicht genügend Friends in der richtigen Größe. Hat er etwa Recht?

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Ich jedoch habe mich seit Wochen immer wieder mit You Tube Videos vom Old Man heiß gemacht und kann seine Routenbeschreibung im Schlaf aufsagen. Jetzt will ich den Herren wenigstens einmal grüßen, ihn anfassen, sehen, wie er wirklich aussieht. „Ok, aber nur eine  Seillänge, Johanna“ –die einfachste. Sie kommt einem Spaziergang gleich. So hetzen wir doch noch zur Fähre und legen 20 Minuten Später auf Hoy an.

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Von Moaness muss man ca. 7 Meilen wandern. Auf und ab, durch baumloses Nass, Gras und Gestein. Wir kommen in eine Talenge, in der ich nicht umhin kann, das Offensichtliche auszusprechen: „Hmmm, wie in Tibet, oder?“- bloß mit mehr Sauerstoff im Blut. Die Weite, die Farben, eine Vorzeige-Tundra!  Wir tragen unsere insgesamt ca. 35kg entlang der menschenleeren Trampelpfade an zwei oder drei Bauerhöfen vorbei, bis wir am Strand von Rackwick aufs Meer Blicken können. Jetzt sind es noch 2 Meilen bis wir ihn sehen, den filigranen Kerl.

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Nach vierstündiger Wanderung stehen wir auf der Klippe gegenüber und stieren ihn ehrfürchtig an -für eine Ewigkeit. Wir identifizieren, wo die schwere Stelle ist, aber der Herr ist so gewaltig, dass mir die Relationen fehlen: Ist das da ein Faustriss, oder ein mannsbreiter Kamin?

Gegen 14.30 Uhr sind wir mit dem Starren fertig und  steigen fast eine Stunde lang zum Fuße der Nadel hinab.

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Es geht los: Die ersten 20 Klettermeter sind ein einziges Lustwandeln. Robert und ich besprechen nun alle Eventualitäten für die zweiten Seillänge, die 5b, die Krux, die kleine fiese Stelle. Er steigt in die Querung. Keine Kommunikation mehr. Zöge er fünf Mal am Seil, wüsste ich, dass er die Stelle für „zu schwer für Johanna“  befinden und zurück seilen würde, ohne mich nachzuholen.

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Ich habe das Gefühl, dass Robert „Aussichern!“ schreit. Aber was tun, wenn man sich da unsicher ist? –im doppelten Sinne. Ich bleibe in Sicherung. Das Seil wird kontinuierlich eingezogen und auch nachdem langsam und kriechend 40 Meter durch meinen HMS gelaufen sind, bringe ich es nicht übers Herz, Robert „auszusichern“. Bis ans Ende der Welt hätte ich ihn gesichert. Ich rufe ein formelles „Dran!“ in den Wind und klettere los. 5-6 Meter quer, dann hoch. Überhang Nr. 1 ist kein Problem, Überhang Nr.2  ein riesiges! Der Hals ist trocken vom Hecheln und mir rieseln an die 2 Zentner Sand in die Augen, welche sich mit verzweifelten Tränen füllen. Mehrmals sitze ich im Gurt. Wie soll das denn gehen? Ich fluche (sehr!) und finde keine Lösung. Immer wieder falle ich unter größter Anstrengung ab und jammere. Dann stöhne ich mich doch nach oben –Huch? Klettern statt Jammern, das könnte der Schlüssel sein.

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Ab jetzt wird nur noch genossen (und gefroren). Die Höhe, die Weite, die Kletterei. Möwen umkreisen uns neugierig, Robben winken amüsiert aus dem Wasser und der Wind bläst uns bis auf die Knochen. Mit roten Nasen stehen wir nun auf der Felsnadel, dem Wahrzeichen zu Hoy und haben ihn „bezwungen“. Ich versuche, Glück zu verspüren und frei und stolz auf das Meer zu schauen. Aber nicht nur die stürmische Kälte zerrt an meinen Gedanken, sondern auch das Wissen, dass das Abseilen nun noch einmal ein größeres Projekt würde. Außerdem  würden wir in Dunkelheit geraten.

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In Vier Etappen seilen wir uns ab, wobei die letzte den größten Nervenkitzel bereitet. 50 Meter geht es vom Überhang nach unten, ich hänge frei in der Luft, 10 Meter vom Fels entfernt. Glucksen, Juchzen, vergnügte Herzsprünge, eine unendliche Fahrt nach unten. Hier bleibt die Zeit stehen, inmitten der Dämmerung. Erst am Fuße des alten Mannes angekommen ist es Zeit für ein herzliches, erleichtertes und stolzes „Berg heil!“.

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Im Dunkeln schlagen wir unser Zelt nahe der Aussichtsplatform auf und abendbroteten, was wir uns seit Tagen vom Munde absparten – Köpergewicht bedingt. Ein Festmahl in der Nacht. Unsere Tanzmusik ist der Wind, der rhythmisch am Zelt zupft. Geschafft!

Propper bestückt mit einem Ganzkörper-Muskelkater laden wir das Gepäck auf unsere Rücken. Gehen wir wirklich denselben Weg zurück, den wir gekommen waren? Robert guckt mich mit diesem „Haben wir noch Zeit für eine Abkürzung?“- Blick an und 3 Stunden später stehen wir auf dem Gipfel des zweithöchsten Berges der Insel (Hoy bedeutet: „die hohe Insel“). Hier entlang, so Robert, ginge nun einmal der kürzeste Weg. Und mit „Weg“ meine ich „Tundra“! Steile rutschige Grashänge klafften vor uns. Robert, mit seinem 20-Kg-Rucksack, brennen die Oberschenkel vom Abstieg. Jeder von uns stolpert und stürzt vor sich hin. Die Füße knicken weg. Alle 10 Minuten gönnen wir uns die Erfüllung aller Träume, geben uns der Schwäche hin und bleiben einfach im weichen Moosbett liegen. Dieser Abstieg bleibt für die nächste Woche unvergessen, erinnert uns doch jede Beinbewegung an diesen wundervollen, sonnigen, letzten Tag auf der Insel Hoy.

Urvertrauen – Wenn der Griff bricht

Sachsen/ Flüchtling AW VI/ Schmilka
In: Sachsen (Schmilka)/ Flüchtling Westkante VI

Die Tiefenpsychologie und Biosoziologie ist sich uneinig. Die Psychoanalyse skeptisch: Wer, Wie oder Was ist Urvertrauen? Ein großes psychologisches Konstrukt? Eine bewiesene Stufe in der psychosozialen Entwicklung? Eine uneindeutige philosophische Frage? Klar ist: Es wird ganz schön viel vertraut in dieser Welt! Der Adrenalinschub beim morgendlichen Brötchen schmieren bleibt aus: Weder die Marmelade, noch das Messer wird mich umbringen. Ich kann täglich unfallfrei Treppensteigen, Zähneputzen, Fingernägel kauen. Es triumphiert das Urvertrauen in mir. Das war nicht immer so. Bestimmt hatte ich richtig Herzklopfen, als ich Laufen lernte, bestimmt hatte ich Puls, als ich „total risky“ Radfahren lernte. Ganz sicher weiß ich, dass beim allerersten Abseilen vom Gipfel  mein komplettes Klettergeschirr am Gurt klapperte und mitzitterte. Das ist nun 7 Jahre her. Inzwischen vertraue ich in Knoten, Griffe, Seile, Bergfreunde, Schuhe.

Doch die „urig“-ness dieses Vertrauens gerät mit jedem Rückschlag ins Wanken. Zum ersten Mal darüber nachgedacht habe ich, als mir in der sächsischen Schweiz ein Griff ausbrach und ich mit großem Schrecken davon kam. „Wo kommen wir denn da hin, wenn man jetzt nichtmal mehr ordentlich festhalten kann, wo man will?“ dachte ich empört. Griffe brechen doch nie. Falsch!

Wir hören auf Mama: Von Fremden keine Süßigkeiten nehmen! Beginnen, Räder immer anzuschließen und Nachts mit Pfefferspray zu joggen.

Es ist nun ein lebenslängliches Verhandeln, eine Probe, eine Ode an das Urvertrauen. Jeden Tag bespricht mein „Urgefühl“ wohlwollend alle Eventualitäten mit dem mir innewohnenden Misstrauen. Heraus kommt, was ich tu und lasse.