Kids in America

Robert und ich erkundeten für 2 Wochen den Bundesstaat New York an der nordamerikanischen Ostküste. Hier ist alles groß! Kühlschränke haben Kleiderschrank-Ausmaße und zwei Türen, die dicken Autos könnten getrost ein fünftes und sechstes Rad zu Stabilisierung gebrauchen und für das Studium aller Chipstüten im Supermarkt sollte man mehrere Tage einplanen. Sogar die Auswahl für die Übersetzung des Wortes „groß“ ist groß: huge, big, great, large, tall, grand, major, …

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Unser Urlaub war keine alpine Meisterleistung, und auch kein hartes Überlebenstraining. Wir begaben uns ganz in die übergewichtige Gemütlichkeit Amerikas. Nach 4 Tagen in New York City fuhren wir mit unserem gigantischen Mietwagen, welcher uns für die nächsten 8 Tage ein wohliges Zuhause bot, in Richtung Adirondack Park. Auf halber Strecke übernachteten wir am Waldrand nahe der Stadt New Paltz. Am sonntäglichen Morgen darauf war mir irgendwie nach Kirche, vielleicht würden wir Gospel-Gesang lauschen können. Im Zentrum der kleinen Stadt standen gleich mehrere Gotteshäuser nebeneinander. Wir betraten irgendeine. Eine halbe Stunde zu spät. 8 Gottesdienstteilnehmer drehten sich zu uns um. Wir wurden mit Gebetsbuch und Ablaufplan versorgt, erst dann predigte die Priesterin weiter. Genau hinter uns saß Betty. Am Ende des Gottesdienstes fragte sie, ob wir nächsten Samstag am Flohmarkt Dinge verkaufen möchten, die wir nicht mehr brauchen. Aber ich beharrte darauf, dass alles, was wir hier besitzen in 2 Rucksäcken im Auto liegt und wir diese sorgfältig gepackten Sachen unwahrscheinlich gern behalten würden.

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Rucksack? Wenig Gepäck? Sie übernachten im Auto? Betty witterte sofort, dass wir Kletterer waren und malte uns eine Weg-Skizze zu ihrem Haus. Dort würde ihr Mann uns ihre Jahreskarten für die Gunks (Shawangunks), das beliebteste Klettergebiet der Ostküste, geben. In den Reisevorbereitungen habe ich die Gunks aufgrund der täglichen Umweltgebühr von 14 Dollar sofort als Reiseziel ausgeschlossen. Und nun kletterten wir doch hier. Dank Betty.
Die Shawangunks gehören zum Gebirgszug der Appalachen und wurden 1935 von Fritz Wiessner als Klettergebiet entdeckt.

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Er hat dort etwa 50 Routen im Freikletterstil (also ohne künstl. Hilfsmittel) wie er ihn aus Sachsen kannte, erschlossen. Einige davon, wie z. B. Frog’s Head und Horseman habe ich nun in meinem Fahrtenbuch stehen. Das Gestein ist ein sehr festes, griffiges Quarzkonglomerat. Das Massiv erreicht bis zu 100 m Höhe und bietet eine wunderbare Aussicht über die bewaldete Ebene Richtung Osten und Hudson River.

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Wenn es abends dunkel wurde, fuhren wir zum Essen in die Stadt. Bald wussten wir, auf welchem Parkplatz der WLAN-Empfang am stärksten ist, wann welche Kinofilme liefen und wo es die billigsten Chinanudeln gab. Fast täglich besuchten wir den hiesigen Kletterladen und kauften den kompletten An- und Verkauf leer: Kletterseil, Daunenschlafsack, Friends, Karabiner und Keile.

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Die Ladenbetreiber schlossen uns in ihr Herz. Mat und Sebastian, 29 Jahre alt, sind kletterfanatisch, haben Kunst und Mathematik studiert und arbeiten im Kletterladen, um sich das Kletterleben finanzieren zu können. Sie boten uns eine Dusche bei sich zu Hause an. Woher wussten sie von deren Dringlichkeit ? Sie bekochten uns und bereiteten uns Betten. Es wurde bis in die Nacht geredet. Worüber wohl? Ihr könnt es euch denken!

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Am nächsten Abend umwaberte uns kriminelle Energie. Die Nacht wurde unser Freund. Im Schutze der Dunkelheit stibitzten wir einen Kürbis vom Felde und bereiteten ungestraft eine Dankes-Suppe für die Gastgeber. Schweren Herzens verließen wir diese kleine paradiesische Kletterwelt, um eine neue zu entdecken: Die Adirondacks.

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Die Adirondacks sind ein Landschaftsschutzgebiet, das sich über 24000 km² erstreckt und damit etwa so groß wie Mecklenburg-Vorpommern ist. Es gibt dort Biber, Elche, Schwarzbären, zahlreiche Vogelarten, viel Wald und natürlich auch Kletterfelsen. Wir fuhren zwei weitere Autostunden gen Norden. Die Bäume hatten sich in herbstliche Schale geworfen, der Altweibersommer funkelte uns entgegen. Leider hatten wir nur einen Tag, um in diese sagenhafte Wildnis einzutauchen, als königliches Willkommen und Abschied zugleich. Die Welt lag uns zu Füßen! Unser Ziel war die Chapel Pond Slab, eine 200 Meter hohe Reibungsplatte aus Granit.

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Wer hier klettern will, sollte ein Set von Friends und Keilen dabei haben. Gebohrte Haken und Stände gibt es (wie auch in den Gunks) keine. Davon, und auch von der Höhe der Wand, lässt sich der geübte Sachsenkletterer jedoch nicht beeindrucken: Die Neigung ist angenehm und die Füße stehen gut – und so waren wir bereits nach 3h oben, gemeinsam mit einer kanadischen Seilschaft.

Der Weg zurück nach New York City fiel mir schwer. Große Städte haben etwas Lebensfeindliches. Aber immerhin würden wir wieder ein Leben mit Körperhygiene führen. Und so endet unsere spannende Klettertour durch den Staat New York. Hier war wenigstens erlaubt, was Spaß macht: Chalk, Friends, laute bis kreischende Unterhaltung. Letzteres macht natürlich ausschließlich dem Praktizierenden Spaß. Ich hingegen wäre einmal fast abgefallen, weil ein extrem lautes Klettergirl mit ihrem huge Stimmorgan dringend berichten musste, dass es gerade eine 5.11 geknackt hat. „THIS WAS FUCKIN‘ AWESOME!“
Aber alles in allem: Ich würde jederzeit wieder in Amerika klettern – wenn die Sächsische Schweiz nicht auch so verdammt sächsi wäre!

Johanna Lamm

Urvertrauen – Wenn der Griff bricht

Sachsen/ Flüchtling AW VI/ Schmilka
In: Sachsen (Schmilka)/ Flüchtling Westkante VI

Die Tiefenpsychologie und Biosoziologie ist sich uneinig. Die Psychoanalyse skeptisch: Wer, Wie oder Was ist Urvertrauen? Ein großes psychologisches Konstrukt? Eine bewiesene Stufe in der psychosozialen Entwicklung? Eine uneindeutige philosophische Frage? Klar ist: Es wird ganz schön viel vertraut in dieser Welt! Der Adrenalinschub beim morgendlichen Brötchen schmieren bleibt aus: Weder die Marmelade, noch das Messer wird mich umbringen. Ich kann täglich unfallfrei Treppensteigen, Zähneputzen, Fingernägel kauen. Es triumphiert das Urvertrauen in mir. Das war nicht immer so. Bestimmt hatte ich richtig Herzklopfen, als ich Laufen lernte, bestimmt hatte ich Puls, als ich „total risky“ Radfahren lernte. Ganz sicher weiß ich, dass beim allerersten Abseilen vom Gipfel  mein komplettes Klettergeschirr am Gurt klapperte und mitzitterte. Das ist nun 7 Jahre her. Inzwischen vertraue ich in Knoten, Griffe, Seile, Bergfreunde, Schuhe.

Doch die „urig“-ness dieses Vertrauens gerät mit jedem Rückschlag ins Wanken. Zum ersten Mal darüber nachgedacht habe ich, als mir in der sächsischen Schweiz ein Griff ausbrach und ich mit großem Schrecken davon kam. „Wo kommen wir denn da hin, wenn man jetzt nichtmal mehr ordentlich festhalten kann, wo man will?“ dachte ich empört. Griffe brechen doch nie. Falsch!

Wir hören auf Mama: Von Fremden keine Süßigkeiten nehmen! Beginnen, Räder immer anzuschließen und Nachts mit Pfefferspray zu joggen.

Es ist nun ein lebenslängliches Verhandeln, eine Probe, eine Ode an das Urvertrauen. Jeden Tag bespricht mein „Urgefühl“ wohlwollend alle Eventualitäten mit dem mir innewohnenden Misstrauen. Heraus kommt, was ich tu und lasse.