Ein Leben im Konjunktiv

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Wäre ich Bergarbeiter im 16. Jahrhundert im Harz, hätte ich kaum Sonne und kaum Schlaf. Um 3.40 Uhr würde ich von der Glocke geweckt, um 4.20 Uhr führe ich in den Berg ein. Punkt 21 Uhr käme ich wieder über Tage, und sähe Mitte Mai die Sonne noch für genau 9 Minuten. Ich trüge ein Arschleder und sähe meine Frau und Kinder monatlich. Mein Arbeitgeber sorgte gut für meine Sicherheit, Bergunfällen gäbe es nur 0,146 pro Jahr.

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Für mich ist es nur ein Familienausflug. Ein Flüchtiger Blick ins „Damals“. Es ist eigentlich nur ein Museum im Harz, und ich betrachte dieses historische Bergwerk mit den Augen einer Studentin, die nicht seit dem 10. Lebensjahr unter Tage arbeitet, die sich am Ende des Tages trotzdem irgendwie mehr als ein halbes Brot leisten kann. Ich darf denken! Ich darf Bildung! Ich trage Northface-Jacke, statt „Bergleder“ und bin noch satt von Omas Kuchen. Die Johanna von 1640 hätte in meinem Alter bereits 3 Kinder, von denen die ersten beiden sogar schon die Bergbauausbildung anfingen. Die Johanna von 1640 heiratete aus Liebe. Oder auch nicht. In jedem Fall scheint es egal: Sie sähe den Mann nur äußerst selten. Und das nicht einmal bei Tageslicht.

Immer tiefer grabe ich mich in meine Vorstellungen, mit einer kleinen Sehnsucht, die ich nicht erklären kann. Jede Epoche hat ihr Leid. Aber auch ihre Freuden! Großes Kino in meinem Kopf. Wer wäre ich? Ich kenne nur die Heute-Johanna mit den Heute-Sorgen und den Heute-Gedanken. Vielleicht wäre ich Shakespearin geworden, die Eva Strittmatter der Bergbaufrauen. Nun, mir bleibt nichts anderes übrig, als zu sehen, was im Jetzt aus mir wird. Schade. Langweilig. Aber es bleibt auch die Fantasie. In gewisser Weise haben wir alle einen Auftrag: Wir müssen es der Zukunfts-Johanna im Jahre 2400 so spannend wie möglich machen, wenn sie durch das Museum läuft, in dem WIR und UNSER LEBEN ausgestellt sein werden. Wo es noch Fahrräder gab und Arschgeweihe. Was die alles verpasst haben wird! An die Arbeit!

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Ein Gedanke zu “Ein Leben im Konjunktiv

  1. Mit diesem Satz gehe ich nicht mit: “ Vielleicht wäre ich Shakespearin geworden, die Eva Strittmatter der Bergbaufrauen. Nun, mir bleibt nichts anderes übrig, als zu sehen, was im Jetzt aus mir wird. Schade. Langweilig.“ Genau jetzt wird es doch interessant. Wer lebt, muss ständig vom Träumen zum Handeln wechseln. Das einzigartige Leben wird immer in der Gegenwart realisiert.
    Lieben Gruss Günter

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